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18.06.2025, Lokalredaktion
Mit dem Tod Alfred Brendels, der am 17. Juni 2025 im Alter von 94 Jahren in London verstarb, verliert die Welt nicht nur einen Pianisten von unvergleichlicher Statur, sondern einen Intellektuellen, dessen Kunst die Dialektik von Präzision und Freiheit, von Reflexion und Ausdruck in sich vereinte.
Brendel war mehr als ein Virtuose am Klavier; er war ein Denker, ein Dichter, ein Seismograf der menschlichen Existenz, dessen Spiel die Widersprüche der Moderne aufschloss und zugleich die Zeitlosigkeit der Musik beschwor. Sein Vermächtnis, durchdrungen von einer seltenen Verschmelzung von Geist und Sinnlichkeit, fordert uns auf, die Kunst als kritischen Akt, als Widerstand gegen die Verflachung des Daseins zu begreifen.
Die Dialektik des Spiels
Brendels Kunst war keine bloße Reproduktion von Noten; sie war eine Auseinandersetzung mit der Struktur des musikalischen Materials, ein Akt des Durchdringens, das die Werke Beethovens, Schuberts oder Mozarts nicht nur interpretierte, sondern auf fast unerklärliche Weise neu erschuf. Wie ein Archäologe der Töne grub er in Partituren, um deren verborgene Schichten freizulegen, ohne je die Oberfläche des Klangs zu vernachlässigen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung beschreibt ihn treffend als „Charakterdarsteller am Klavier“ (FAZ, 17.06.2025), ein Musiker, der die dramatischen Figuren der Musik nicht bloß darstellte, sondern deren innere Spannungen lebendig machte. Seine Aufnahme von Schuberts Impromptus etwa, ist kein nostalgischer Rückgriff auf romantische Empfindsamkeit, sondern ein kritischer Kommentar zur Zerbrechlichkeit des Subjekts in einer entfremdeten Welt. Die Pianissimo-Passagen, wie sie in den späten Sonaten Beethovens erklingen, waren bei Brendel nicht Effekt, sondern Ontologie: ein Flüstern des Seins gegen die Lärmkulisse der Geschichte.
Seine Technik, oft als makellos gepriesen, war kein Selbstzweck. Sie diente der Enthüllung des musikalischen Sinns, der in der Spannung zwischen Form und Ausdruck liegt. Wie die Süddeutsche Zeitung in ihrem Nachruf betont, war Brendel ein „Musiker, der die Kunst des Weglassens beherrschte“ (SZ, 18.06.2025). Seine Reduktion auf das Wesentliche, sein Verzicht auf ornamentale Übertreibung, war ein Akt der Askese, der die Musik von der Verführung durch bloße Virtuosität befreite. Doch diese Askese war keine Kälte; sie war durchglüht von einer Leidenschaft, die sich in der Intensität seiner Phrasierungen offenbarte, in der Art, wie er einen Akkord zum Leuchten brachte oder eine Pause zur Ewigkeit dehnte.
Ein Intellektueller der Tasten
Brendel war kein Musiker, der sich auf die Tasten beschränkte. Seine Essays, Vorträge und Gedichte, gesammelt in Werken wie „Nachdenken über Musik“ oder „Spiegelbild und schwarzer Spuk“, zeugen von einem Geist, der die Musik als Teil eines größeren kulturellen Gefüges begriff. Er war, wie Michael Krüger in der FAZ schreibt, ein Mann, für den Musik untrennbar mit dem Leben verbunden war: „Wer als Musiker nur etwas von Musik versteht, hat auch von ihr nichts verstanden“ (FAZ, 17.06.2025). Diese Haltung, ein Echo Hanns Eislers, machte Brendel zu einem Künstler, der sich der Welt nicht entzog. Seine intellektuelle Neugier erstreckte sich auf Literatur, Film und Politik; seine Freundschaften mit Dichtern wie Joseph Brodsky oder Verlegern wie Michael Krüger zeugen von einem Leben, das in der Kunst wie im Gespräch gleichermaßen verwurzelt war.
Seine Liebe zum Film, die in einer Anekdote über einen Besuch in einem Münchner Vorstadtkino zur Vorführung eines Kaurismäki-Films lebendig wird (FAZ, 17.06.2025), war kein bloßes Hobby. Sie war Ausdruck einer Sensibilität für die Melancholie des Alltags, für die „herzerwärmende Traurigkeit“, die Brendel in der Kunst suchte und fand. Diese Fähigkeit, das scheinbar Periphere mit dem Wesentlichen zu verbinden, machte ihn zu einem Künstler, der die Grenzen der Musik sprengte.
Seine Vorträge, etwa jene an der Universität Oxford, waren keine akademischen Übungen, sondern philosophische Meditationen über die Rolle der Kunst in einer Welt, die von Utilitarismus und Oberflächlichkeit bedroht ist (The Guardian, 18.06.2025).
Der Mensch hinter der Kunst
Brendels Größe lag nicht nur in seiner Kunst, sondern in seiner Menschlichkeit. Seine Großzügigkeit, von Michael Krüger als zentrale Eigenschaft hervorgehoben, zeigte sich in der Geduld, mit der er Fragen von Laien beantwortete, in der Wärme, mit der er Freundschaften pflegte. Doch er war kein Heiliger; seine spitze Zunge, sein trockener Humor – etwa in seinem Kommentar über Brodskys Zigarettenrauch und Rilke (FAZ, 17.06.2025) – machten ihn zu einer lebendigen, widersprüchlichen Figur. Als „solider Agnostiker“, der Kirchen nicht ohne Neugier betrat, war er ein Sucher, der sich den Verlockungen dogmatischer Gewissheiten entzog.
Seine Bescheidenheit war kein Kalkül. Er war, wie die Neue Zürcher Zeitung schreibt, ein Künstler, der Ruhm nie anstrebte, sondern ihn als Konsequenz seiner Arbeit akzeptierte (NZZ, 18.06.2025). Diese Haltung spiegelt sich in seiner Entscheidung, sich 2008 vom Konzertpodium zurückzuziehen, um sich ganz dem Schreiben und Lehren zu widmen. Es war ein Akt der Selbstbestimmung, der bewies, dass Brendel nicht der Karriere, sondern der Kunst verpflichtet war.
Das Vermächtnis
Alfred Brendels Tod markiert das Ende einer Ära, in der die klassische Musik noch ein Ort der kritischen Reflexion sein konnte. Sein Spiel, seine Schriften, seine Lehre und Präsenz sind ein Vermächtnis, das uns auffordert, die Kunst nicht als Flucht, sondern als Auseinandersetzung mit der Welt zu begreifen. In einer Zeit, die von der Entwertung des Individuums und der Kommerzialisierung der Kultur geprägt ist, bleibt Brendel ein Mahnmal: Die Musik, wenn sie wahrhaftig ist, ist kein Konsumgut, sondern ein Akt des Widerstands, ein Raum, in dem das Menschliche sich gegen die Barbarei behauptet.
Seine Aufnahmen, von Beethovens Sonaten bis zu Schuberts Klavierstücken, sind nicht nur Dokumente einer einzigartigen Kunst; sie sind Zeugnisse einer Haltung, die die Widersprüche der Moderne nicht glättet, sondern produktiv macht. Brendel war kein Romantiker, der in der Vergangenheit verharrte; er war ein Modernist, der die Zukunft der Musik dachte, indem er ihre Vergangenheit kritisch erhellte. Sein Tod ist ein Verlust, aber sein Werk bleibt – ein Spiegel, in dem wir uns selbst und die Welt erkennen können, wenn wir nur zu schauen wagen.
Thomas Schröder, Leiter der Musikschule